Nicht jedes gerissene Beutetier wird auch vollständig verzehrt. Foto: Ulrich Wotschikowsky
Ein Wolf kann auf einmal 10 Kilogramm Fleisch runterwürgen, heißt es. Das mag
sein. Aber ein derart voll gefressener Wolf ist nicht die Regel,
sondern die Ausnahme. Wenn er nicht hinterher das Meiste wieder
hervorwürgt, bewegt er sich ein, zwei Tage lang kaum vom Fleck,
höchstens zum Trinken. Das Hervorwürgen ist die Regel – nämlich für die
Welpen. So ernähren Wölfe ihre Jungen. Sie transportieren Beute im
Magen statt im Fang.
Wölfe können auch tagelang hungern. Ich erinnere mich an ein
zehnköpfiges Wolfsrudel im Yukon, das wir jeden zweiten Tag mit einem
Buschflieger aufsuchten (keine Kunst, denn einer der Wölfe hatte einen
Sender, und das Gelände war schneebedeckt, waldfrei und gut einsehbar).
Erst neun Tage, nachdem sie ihren letzten Riss verlassen hatten,
erbeuteten die Wölfe einen Elch. Sie verließen ihn nach vier Tagen. So
was ist normal.
Wie viel Fleisch ein Wolf dabei pro Tag verzehrt hat, haben wir Wochen
später versucht zu ermitteln. Wir suchten die Reste gerissener Elche
und Karibus auf, die säuberlich auf Karten eingetragen waren, und wogen
alles, was wir fanden. Von ausgewachsenen Elchen war manchmal viel
Fleisch übrig. Vielfraße, Adler, Kolkraben oder Füchse hatten nicht
hingefunden oder das steinhart gefrorene Fleisch kaum fressen können;
die Bären dösten noch im Winterlager. Handelte es sich bei der Beute
aber um Kälber oder Karibus, fand sich außer dem Panseninhalt, wenigen
groben Knochen und Fellfetzen so gut wie nichts, was wir wiegen
konnten.
Wer sich in diese Geschichten hineindenkt, kann sich leicht vorstellen,
wie schwierig es ist, den tatsächlichen Nahrungsbedarf eines Wolfes
bzw. eines Rudels zu ermitteln. Denn das hängt von vielen Faktoren ab,
weshalb das Ergebnis sehr unterschiedlich sein kann. In meinen
Schätzungen für die Lausitz habe ich unterstellt, dass der
Durchschnittswolf pro Tag 5,4 Kilo lebende Beute erlegt. Warum das? Und
was heißt das?
Zum Nahrungsbedarf von Wölfen greifen David L. Mech & Luigi Boitani
in ihrem Standardwerk „Wolves“ (2003) auf 18 Untersuchungen zurück, die
in Nordamerika in den Wintermonaten durchgeführt wurden. Der
Durchschnittswert für „available prey“ –lebende Beute – pro Wolf und
Tag ist 5,4 Kilogramm. Das entspricht etwa einem Reh von 21,6 Kilo alle vier
Tage. Etwa 70 Prozent davon sind verwertbar, etwas mehr als das „Gewicht
aufgebrochen“ (15 Kilo), mit dem Jäger gut umgehen können und das ich
deshalb in der weiteren Rechnung verwende. Also knapp 4 Kilogramm „Schalenwild
aufgebrochen“ erlegt ein Wolf pro Tag.
Das heißt aber nicht, dass er diese Menge auch frisst. Jens Karlsson,
Wolfsforscher in Schweden, geht davon aus, dass ein Wolf pro Tag etwa 2 Kilogramm verzehrt und mit dieser Mahlzeit alle seine Lebensäußerungen
bestreiten kann: also Körpertemperatur erhalten, verdauen, weite
Strecken laufen, jagen, Welpen aufziehen – alles, was zum Leben gehört
und immer Brennstoff braucht, sprich: Nahrung. Demnach würde ein Reh
sogar eine ganze Woche für einen Wolf reichen.
Der Durchschnittswert aus den genannten 18 Untersuchungen in
Nordamerika passt gut zu Untersuchungen in Bialowieza: 5,6 Kilo. Die
Spannbreite reicht allerdings von 2,0 bis 17,1 Kilo – da fragt man sich
schon: Was bedeutet ein Mittelwert von 5,4 Kilogramm?
Schaut man sich in den Berichten genauer um, so fällt auf: Bei kleinen
Beutetieren (Weißwedelhirsche und Dallschafe; fünf Berichte) liegt der
Mittelwert bei 2,7 Kilo (2,0 – 3,9), bei Elchen und Bisons (zehn
Berichte) dagegen bei 5,8 Kilo (2,2 – 11,4). Drei weitere Berichte mit
Karibu und Wapiti zeigen sehr große Streuungen (6,8 – 17,1) wegen
besonderer Umstände, die ich hier nicht diskutieren will. Es ist
offensichtlich, dass Wölfe bei kleinerem Schalenwild mit geringeren
Kilowerten pro Tag auskommen. Der Wert 5,4 Kilogramm für die Lausitzer Wölfe,
die hauptsächlich von Rehen, geringem Rotwild und Frischlingen leben
und davon fast nichts übrig lassen, ist wahrscheinlich zu hoch,
vielleicht sogar viel zu hoch.
Für die Welpen habe ich nur den halben Nahrungsbedarf unterstellt, weil
sie erst im Mai geboren werden und zunächst nur klein sind. Bezugszeit
ist das gesamte Jahr.