Auch wenn MEYER-RAVENSTEIN zuzugeben ist, dass § 22 Abs. 4 Satz 1 BJagdG in seinem Wortlaut nicht eindeutig ist, vermag seine – zu enge – Rechtsauslegung im Ergebnis nicht zu überzeugen. Bei der Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift – hier § 22 Abs. 4 Satz1 BJagdG – ist nach der sogenannten Objektiven Theorie, die in Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertreten wird, der in dieser Vorschrift zum Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgeblich (vgl. BVerfGE 11, 126 (130); Sachs, GG, Einf. Rdn. 54 m.w.N.). Um diesen Willen zu erfassen, sind verschiedene Auslegungsmethoden möglich, die grundsätzlich ein-
ander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Im vorliegenden Fall lässt der Wortlaut der Norm keinen eindeutigen Rückschluss auf den Willen des Gesetzgebers zu. Die Vorschrift kann nämlich – neben der vertretbaren (engen) Auslegung durch MEYER-RAVENSTEIN – auch weiter verstanden werden, nämlich dahingehend, dass der Zeitraum für die Geltung der Vorschrift in den Setz- und Brutzeiten beginnt und bis zum Selbstständigwerden der Jungtiere reicht.
Da der Wortlaut mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulässt, erweist sich die Vorschrift als auslegungsfähig und -bedürftig. In Betracht kommt eine Auslegung nach dem Schutzzweck der Regelung, die MEYER-RAVENSTEIN zunächst in Betracht zieht, hierin allerdings sodann eine „strafrechtsuntypische“ Auslegung sieht, die dem Grundsatz „in dubio pro reo“ wohl nicht gerecht werde (MEYER-RAVENSTEIN 2015, Seite 38).
Betrachtet man § 22 Abs. 4 Satz 1 BJagdG nach seinem Sinn und Zweck, so wird man nicht umhinkönnen, den wildbiologischen Erkenntnissen, die im ersten Teil dieser Abhandlung behandelt worden sind, Raum zu geben. Solche Überlegungen veranlassten auch das Oberlandesgericht Hamm dazu, Alttiere so lange als zur Aufzucht notwendig anzusehen, wie nicht einwandfrei feststeht, dass sie keine unselbstständigen Jungtiere zu versorgen haben (OLG Hamm a.a.O. Rdn. 18 unter Verweis auf METZGER in: ERBS/KOHLHAAS, Strafrechtliche Nebengesetze, § 22 BJagdG Rdn. 6).
Diese – sehr weitgehende – rechtliche Auslegung bedarf allerdings in Ansehung der mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Bestimmtheitsgebots einer Einschränkung dahingehend, dass sie nur bei einem eindeutig gelagerten Sachverhalt Anwendung finden kann. Das Oberlandesgericht hat diese Eindeutigkeit des Sachverhaltes zu Recht daran festgemacht, dass der Angeklagte in dem zugrundeliegenden Fall – nach dem unzweideutigen Ergebnis der Beweiswürdigung – am 26. 11. 2013 gegen 16 Uhr aus einem Rudel Rotwild, bestehend aus zwei Alttieren, zwei Kälbern und einem Schmaltier, sich zum Abschuss eines Alttieres entschloss, „da er an keines der Kälber herankam“. Für den Grundsatz „in dubio pro reo“ sah das Oberlandesgericht Hamm im vorliegenden Fall zu Recht keinen Raum.
Etwas anderes kann eben nur in Zweifelsfällen gelten, also z. B. dann, wenn ein Alttier in der fraglichen Zeit einem Schützen vorkommt, ohne dass ihm ein Kalb folgt oder zugeordnet werden kann. Für solche Zweifelsfälle – aber auch nur für solche – ist die Interpretationshilfe des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft vom 6. 2. 2012 den Jagdbehörden der Länder an die Hand gegeben worden, nach der § 22 Abs. 4 Satz1 BJagdG als strafbewehrte Norm „im Zweifel“ eng auszulegen ist mit der Folge, dass – in solchen Zweifelsfällen – im November/ Dezember erlegte Elterntiere von Schalenwild (außer Schwarzwild) strafrechtlich in der Regel nicht sanktioniert werden sollten. Besteht hingegen – wie in dem vom OLG Hamm entschiedenen Fall – ein solcher Zweifel nicht, führt an der Einordnung des Verstoßes als vorsätzliche Straftat kein Weg vorbei.
Eine andere Frage ist die, ob § 22 Abs. 4 Satz 1 BJagdG nicht klarer gefasst werden sollte, möglicherweise sogar mit einer Konkretisierung der entsprechenden Zeiträume, innerhalb derer Jungtiere der Führung durch Elterntiere bedürfen. Eine solche Konkretisierung, ggf. differenziert nach Schalenwildarten, würde auf der einen Seite mehr Rechtsklarheit bringen. Andererseits wird hierdurch aber auch zwangsläufig der Zeitraum eingeengt, in dem eine verantwortungsvolle und tierschutzkonforme Bejagung von Alttieren noch möglich bleibt. Die Kalb-Alttier-Doublette mag hier zwar helfen, doch wird sie vielerorts nicht zu einer hinreichenden Erfüllung des Abschlussplans ausreichen.
Wenn man dessen ungeachtet den Weg einer Konkretisierung des § 22 Abs. 4 Satz 1 BJagdG beschritte, müsste man ggfs. über die Notwendigkeit flexiblerer (regional ggfs. beschränkter) Verlängerungen der Jagdzeit auf weibliches Rotwild nachdenken. Denn neben dem Tierschutz muss auch der Schutz des Eigentums vor übermäßigen Wildschäden zu seinem Recht kommen.