Als an diesem 1. Maimorgen der Bodennebel sich hebt und ein Ansprechen möglich ist, äst entlang des Bächleins, das die Jagdgrenze bildet, völlig vertraut ein Rehbock. Als ein Schuss fällt, reißt es den Bock im Feuer zusammen. Von einem der Hochsitze löst sich bald eine grüne Gestalt und nähert sich dem Bock, der gerade mal zehn Meter vom Bachrand entfernt liegt. Am gestreckten Wild stehend, lüftet der Jäger seinen Filz (wie andachtsvoll), greift sich aus seinem Rucksack das Plesshorn und schmettert weit vernehmlich „Bock tot“ in den eigentlich schönen Morgen.
Aber auch die andere Grenzkanzel ist besetzt. Das Fernglas vor den Augen, beobachtet der Nachbar – Schaum vorm „Gebrech“ produzierend – was sich vor ihm abspielt. Er hat Mühe, seinen Ärger, ja seine Wut zu unterdrücken. Statt abzubaumen und dem Nachbarn Waidmannsheil zu wünschen (was sich vermutlich entmachtend positiv auf zukünftige Grenzjagd ausgewirkt hätte), macht er sich in seinem Hochsitz immer kleiner, um nicht erkannt zu werden. Er baumt erst ab, nachdem der Nachbar längst seinen Bock geborgen und sich entfernt hat.
Solches oder Ähnliches spielt sich in deutschen Revieren am 1. Mai vieltausendfach ab. Da sitzen sich an den Grenzen gestandene Männer, im sonstigen Leben honorige Leute, mit am Hut auf weite Entfernung erkennbaren Ehrenzeichen en masse gegenüber und gönnen dem Vis-à-vis die Luft nicht zum Atmen. Vor ein paar Wochen noch saß man bei der Hegeringversammlung beim Glas Bier zusammen und versprach sich wer weiß was... Was soll nun werden aus dem gerade beginnenden Jagdjahr, wenn es vielfach so losgeht?
Die an den Grenzen nicht selbst erlegten Böcke dürsten nach „Rache“ und gute Vorsätze werden schnell vergessen. Es ist eine Psychose, die da alljährlich neu und leider ungebremst zum Aufgang der Bockjagd stattfindet. Sind es die stärksten Böcke, die immer an den Grenzen vermutet werden, oder die Einstellung „Grenzböcke sind immer richtig“, oder ist es Neid und Missgunst?
Da wird revierintern von warmen und heißen Grenzen geredet, was einen Zustand provoziert, den man nur als organisierte Grenzjagd bezeichnen kann. Eingeladene Gäste sind herzlich willkommen, ihren Bock haben sie jedoch gefälligst so wie der Jagdaufseher auch, „bitte nah am Feindlichen zu erlegen“. Da es grundsätzlich bei den Nachbarn immer öfter knallt als im „vorbildlich“ gehegten eigenen Revier, werden Maßnahmen ergriffen, die den Jagderfolg steigern sollen. (Verbotene) Kirrungen werden mehr und näher an die Grenzen verlegt. Rüben, Trester und andere Schmankerl sind ausgebracht, grenznah versteht sich, sobald die Äpfel gepresst und die Rüben gerodet sind!