Rainer, der Heger, begrüßt uns. Kerstin und Jörn, ein befreundetes Jägerpärchen, den Nachbarsjungen, einen 11-jährigen angehenden Nachwuchsjäger und mich, eher Stadtmensch und absoluter Laie was Jagd angeht.
Bis es mich der Liebe wegen aufs Land zog, kam die Milch bei mir aus dem Tetrapack und das Fleisch aus der Kühltruhe des nächstgelegenen Supermarktes.
Heute bin ich eingeladen und darf die Jäger auf Ansitzjagd begleiten. Der Rehbock ist zum Abschuss freigegeben. Rainer spricht bei der Begrüßung ein paar einleitende Worte über die Jagd als ältestes Handwerk der Welt und verleiht dem Abend damit eine besondere Würdigung. Irgendwie fühle ich mich privilegiert und bekomme den Eindruck etwas Besonderes erleben zu dürfen. Nachdem Tanja mich super gut gegen die abendliche Kälte mit Decke und Mütze ausgestattet hat, geht's los. Die Jäger verteilen sich auf ihre Ansitze. Ich darf Kerstin begleiten. Über 20 Jahre Jagderfahrung. Wir fahren ins Revier und platzieren uns auf dem Ansitz, einer aufgeständerten Baubude mitten im Windmühlenpark. Kerstin drückt mir ein Fernglas in die Hand und erklärt mir, wo ich die bestmöglichen Chancen habe etwas zu erspähen.
Gleich zu Beginn entdecken wir ein weibliches Reh. Das heißt, dass es sich dabei um ein weibliches Reh handelt, sieht natürlich nur Kerstin. Ich lass mir erklären, dass nur die Böcke ein Geweih tragen, also gibt es schon mal ein eindeutiges äußeres Erkennungsmerkmal. Dennoch finde ich es auf die Entfernung gar nicht so einfach den Unterschied auszumachen. Doch das bringt natürlich die Erfahrung mit sich.
So schnell das Tier aufgetaucht ist, ist es auch schon wieder weg. Wir suchen konzentriert mit unseren Ferngläsern die Umgebung nach Rehwild ab. Lange Zeit passiert gar nichts. Ich frage mich, ob das nicht ganz schön langweilig werden kann, einfach nur so in die Gegend zu gucken. Doch mit der Zeit macht sich ein ganz anderes Gefühl in mir breit. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses 'sich auf die Natur einlassen' auch bei mir therapeutische Wirkung entfaltet. Wellness für Geist und Seele. Kerstin bestätigt meinen Eindruck. Es sei ihr gar nicht so wichtig, immer etwas vor die Flinte zu bekommen. Allein zwei Stunden auf dem Ansitz zu verbringen, führe zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. Und zu entdecken gebe es immer etwas. Ich bin beeindruckt und beginne Verständnis für die Faszination des Jagens zu entwickeln.
Kurze Zeit später wird unsere Ausdauer tatsächlich belohnt. Nachdem wir zunächst von hoppelnden Hasen unterhalten wurden, taucht ein Schmaltier auf. Natürlich kannte ich den Begriff vorher nicht. Nun weiß ich aber, dass es sich um ein weibliches Jungreh handelt, welches noch keine Kitze zur Welt gebracht hat. Wie Kerstin das nun so genau erkannt hat, wird mir auch weiterhin ein Rätsel bleiben, aber ich fühle mich bereits um so viel Wissen bereichert, dass diese verbleibende Lücke auch völlig okay ist.
Nun platziert sich dieses Reh genau vor unsere Hütte und futtert seelenruhig vor sich hin. Ein schönes Naturschauspiel, das sich über 20 Minuten hinzieht. Wir sind so fasziniert und gefesselt von dem Anblick, dass wir nun doch Sorge haben, den Bock zu verpassen, der vielleicht auch irgendwo in unserer Nähe sein könnte. Als sich unser Reh dann langsam aus unserem Blickwinkel verabschiedet, taucht kurz darauf tatsächlich ein Rehbock auf. Das Objekt der Begierde! So, nun kann's losgehen, denke ich, doch Kerstin vertröstet mich nach einem geschulten Blick auf das Tier. Dieser wäre zu jung, den würden wir ziehen lassen. Wie hat sie das jetzt nun wieder gesehen? Sie klärt mich auf, dass man das Alter des Bocks am Geweih bestimmen kann. Ältere Tiere bilden mehrere Vergabelungen aus.
Noch bevor sich eine Enttäuschung darüber breit machen kann, dass wir wieder nicht das richtige Wild gesichtet haben, taucht ein weiteres Reh auf sowie ein zweiter Bock. Wow, ganz schön viel los im Revier.